Edgar Rice Burroughs: Am Mittelpunkt der Erde

Ein Erfinder und ein Prospektor entdecken mit einem Tunnelfahrzeug die hohle Erde namens Pellucidar eine Welt ohne Nacht, voller Urwesen und primitiver Völker. Dort kämpfen sie gegen das Recht des Stärkeren. Der Comic basiert auf einem Abenteuerklassiker von Edgar Rice Burroughs.
Ein literarischer Dinosaurier bekommt ein neues Gesicht
Am Mittelpunkt der Erde ist ein Name, der nicht erst seit Edgar Rice Burroughs’ Adaption Abenteuerfans das Herz höherschlagen lässt. Der Autor, den viele in erster Linie mit Tarzan verbinden, war in Wahrheit ein Pionier des spekulativen Abenteuers und seine Geschichte von einer hohlen Erde, bevölkert von Dinosauriern, Steinzeitmenschen und einer ewigen Sonne, schreit geradezu nach einer visuellen Umsetzung. Jean-David Morvan hat sich dieser Aufgabe angenommen und liefert mit diesem Band eine wuchtige, atmosphärische Interpretation, die nicht nur Nostalgiker begeistern dürfte.
Wenn Jules Verne und Conan ein Kind hätten
Die Story folgt dem Industriellen David Innes und dem genialen Erfinder Abner Perry, die mit einem experimentellen Tunnelfahrzeug eine Art viktorianischer Bohrwurm tief unter die Erdkruste reisen. Dort stoßen sie auf Pellucidar, eine Welt im Innern der Erde, die der Autor mit einer Mischung aus geologischer Fantasterei, Evolutionstheorie und urzeitlicher Action zum Leben erweckt. Schon die Prämisse ist ein verspielter Mix aus Jules Vernes wissenschaftlichem Abenteuergeist und dem rauen Heroismus eines Robert E. Howard.
Eine Welt, die niemals schläft
Besonders faszinierend ist das Setting: Pellucidar ist eine Welt ohne Nacht. Die ewige Sonne steht unbeweglich im Zentrum dieser Hohlerde, wodurch die Zeitwahrnehmung völlig außer Kraft gesetzt wird. Diese Idee wirkt auf den ersten Blick vielleicht wie reine Pulp-Fantastik, verleiht der Geschichte aber eine surreale Note, die das Gefühl der Orientierungslosigkeit noch verstärkt. Man spürt förmlich, wie die Charaktere den Bezug zur Realität verlieren ein genialer Kunstgriff.
Grafik, die knallt
Illustratorisch ist der Comic ein echtes Brett. Die Zeichnungen sind dynamisch, farbintensiv und mit einem leichten Vintage-Touch versehen, der der Vorlage Respekt zollt, ohne altbacken zu wirken. Die prähistorischen Tiere brüllen förmlich von der Seite, und auch die menschlichen Wesen, denen unsere Helden begegnen, sind liebevoll grotesk und abwechslungsreich gestaltet. Besonders gelungen: Die Darstellung der ewigen Sonne, die wie ein goldener Gott am Himmel hängt und fast sakral inszeniert wird.
Zwischen Dschungel und Aufklärung
Inhaltlich geht es aber nicht nur um das große Abenteuer. Innes und Perry geraten in eine Welt, in der das Faustrecht regiert – und versuchen, ihre Ideale von Aufklärung, Rationalität und Empathie hineinzutragen. Das wirkt heute manchmal etwas naiv, ist aber gleichzeitig auch ein schöner Kontrapunkt zur Brutalität der Umgebung. Der Comic gelingt es, diese Spannung zwischen Zivilisation und Wildnis spürbar zu machen, ohne ins Klischee zu kippen.
Tempo, Tempo, Tempo!
Die Erzählstruktur ist rasant. Vielleicht sogar zu rasant: Die Geschichte springt teilweise sehr schnell von Szene zu Szene, als wolle sie unbedingt jede noch so kleine Episode des Romans unterbringen. Hier hätte ein bisschen mehr Atem dem Abenteuer gutgetan, manche Begegnung oder Wendung rauscht so vorbei, dass sie kaum Zeit hat, Wirkung zu entfalten. Gerade für Leser, die das Original nicht kennen, könnten einige Entwicklungen etwas abrupt wirken.
Zwischen Science-Fiction und Fantasy
Interessant ist die Genre-Verschmelzung: Am Mittelpunkt der Erde bewegt sich geschickt auf dem Grat zwischen wissenschaftlicher Spekulation und reiner Fantasie. Der Comic versucht erst gar nicht, wissenschaftlich exakt zu sein was völlig okay ist, denn dafür bekommen wir ein Feuerwerk an Ideen, Wesen und kulturellen Eigenheiten dieser Parallelwelt. Wer also Realismus sucht, ist hier falsch. Wer aber bereit ist, sich auf ein Abenteuer mit weit geöffnetem Geist einzulassen, wird belohnt.
Kein Retro ohne Relevanz?
Eine berechtigte Frage bleibt: Braucht es heute noch solche pulpigen Geschichten? Die Antwort ist: Ja wenn sie so respektvoll, aber modern aufbereitet werden wie hier. Morvan schafft es, die Essenz von Burroughs zu bewahren und dennoch eine neue, visuell opulente Erfahrung zu schaffen. Die Geschichte mag aus einer anderen Zeit stammen, aber ihre Themen – Macht, Menschlichkeit, Fortschritt sind weiterhin relevant. Und Abenteuerlust ist schließlich zeitlos.
Ein Höllenritt ins Innere der Erde
Am Mittelpunkt der Erde ist mehr als nur eine Neuinterpretation eines alten Klassikers. Es ist eine Hommage an die ungebremste Vorstellungskraft vergangener Zeiten, verpackt in einem modernen Comic-Gewand. Wer sich auf diese Mischung aus wilder Science-Fantasy, prähistorischem Spektakel und philosophischer Naivität einlässt, bekommt eine visuell mitreißende und thematisch dichte Geschichte geboten.
Morvan gelingt es, die etwas angestaubte Vorlage in die Jetztzeit zu holen, ohne ihren Charme zu verlieren. Gerade das macht diesen Band so empfehlenswert: Sie nimmt sich selbst ernst genug, um nicht ins Lächerliche zu kippen, aber leicht genug, um nie schwerfällig zu wirken. Eine tolle Balance. Wer sich auf die Eigenheiten dieses Stils einlässt, wird reich belohnt: mit fantastischen Bildern, spannenden Figuren und einer Welt, die es sich zu entdecken lohnt. Am Mittelpunkt der Erde ist ein nostalgischer Ritt mit modernem Sattel, ein echtes Vergnügen. Unterm Strich ist dieser Band eine eindrucksvolle Wiederbelebung eines Klassikers, der zeigt: Gute Geschichten kennen kein Verfallsdatum sie brauchen nur das richtige Medium zur richtigen Zeit. Und diese Umsetzung ist dafür wie gemacht.
Vielen Dank an den Splitter Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.
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