Aale und Gespenster

Aale & Gespenster verknüpft zwei Zeitebenen: 1947 bergen zwei Freunde Teile aus dem Wrack der „Cap Arcona“, bei dem 1945 tausende KZ-Häftlinge starben. 1987 entdecken Urlauberinnen ein Skelett – ein Fund, der dunkle Geheimnisse aufdeckt.
Zwei Sommer, zwei Geschichten und ein dunkler Schatten
Marius Schmidts Aale & Gespenster ist kein gewöhnlicher Comic. Auf knapp 140 Seiten entfaltet sich eine Doppelgeschichte, die scheinbar weit auseinanderliegt 1947 und 1987 und doch durch das gleiche dunkle Wasser verbunden ist: die Lübecker Bucht, das Wrack der Cap Arcona, und eine Schuld, die nicht untergeht. Schmidt verbindet historische Fakten mit Fiktion, Krimi mit Geistergeschichte, Jugendabenteuer mit Nachkriegstrauma – und tut das mit bemerkenswerter Sensibilität.
Casimir, Rimsky und das Wrack der Geschichte
Der erste Erzählstrang spielt im Sommer 1947. Casimir und Rimsky schlagen sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch mit dem Ausschlachten der Cap Arcona, ein Wrack, das zugleich Schatz und Mahnmal ist. Die Stimmung ist drückend: eine Welt, die gerade zerfallen ist, sucht nach Wert – in Metall, in Moral, in Menschlichkeit. Anna, die Tochter eines Ortsgruppenleiters, tritt in diese fragile Dynamik ein und bringt Unruhe mit. Was als gefährliche Schatzsuche beginnt, wird schnell zur Konfrontation mit einer Vergangenheit, die niemand wirklich aufarbeiten will.
Ein Campingplatz, ein Skelett und verdrängte Wahrheiten
40 Jahre später macht die alleinerziehende Marianne mit ihrer Tochter Anja Urlaub an der Küste. Ein unscheinbarer Moment ein Skelettfund auf dem Campingplatz kippt die Sommeridylle ins Unheimliche. Die Polizei winkt ab: „Das wird schon ein Opfer der Cap Arcona sein.“ Doch der Comic macht klar, dass die Wahrheit nicht so bequem ist. Hier fängt der zweite Krimi an einer, der nicht nur Fragen zur Vergangenheit stellt, sondern auch zum Umgang der Gegenwart mit ihr.
Zwischen Fakt und Fiktion: Der historische Hintergrund
Die Versenkung der Cap Arcona 1945 ist ein realer, bis heute erschütternder Teil deutscher Geschichte. Tausende KZ-Häftlinge starben, weil das Schiff irrtümlich von britischen Fliegern beschossen wurde – ein unfassbares Kapitel, das oft im Schatten der großen Narrative des Zweiten Weltkriegs steht. Schmidt webt diesen historischen Kontext geschickt ein, ohne ihn zu instrumentalisieren. Stattdessen nutzt er die Fakten als Ausgangspunkt für eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Schuld, Erinnerung und Verdrängung.
Aale, Gespenster und andere Metaphern
Was erstmal schräg klingt Aale und Gespenster? entpuppt sich als perfekt gewählte Doppeldeutigkeit. Die Aale stehen für das Glitschige, das sich durchzieht, was nicht zu fassen ist. Die Gespenster sie spuken nicht nur auf dem Wrack, sondern auch in den Köpfen der Menschen. Schmidt gelingt es, eine Atmosphäre zu schaffen, die unheimlich ist, ohne je ins Klischee zu rutschen. Seine Geister sind real: Es sind Erinnerungen, Schuldgefühle, Verdrängungen. Und manchmal auch Knochen im Erdreich.
Die Sprache der Zeichnungen
Visuell ist Aale & Gespenster mal was anderes. Schmidts Zeichenstil schwankt zwischen etwas abstrakter
Kunst mit aquarellenen Farben und düsterem Comic Noir. Die Farben sind reduziert viel Grau, viel Blau, ein rostiges Rot, das immer wieder an Blut erinnert, ohne je plakativ zu sein. Besonders stark sind die Wechsel zwischen den Zeitebenen: 1947 wirkt wie unter einer Bleiglocke, während 1987 heller, fast steril daherkommt bis der Schrecken durchbricht. Die Panels sind sorgfältig gewählt, mit vielen Details, die man erst beim zweiten Lesen entdeckt.
Dialoge, die klingen
Marius Schmidt hat nicht nur ein Händchen für Atmosphäre, sondern auch für Sprache. Die Dialoge wirken echt, nicht aufgesetzt, manchmal spröde. Vor allem die Gespräche zwischen Casimir und Rimsky haben etwas fast Philosophisches ohne je zu schwülstig zu werden. In der moderneren Zeit spricht kein allwissender Erzähler, sondern Menschen, die ringen um Worte, um Deutung, um das Richtige.
Kein klassischer Krimi, aber ein verdammt spannender
Wer bei „Kriminalgeschichte“ an klassische Whodunit-Strukturen denkt, wird hier überrascht. Aale & Gespenster baut Spannung anders auf: leise, schleichend, psychologisch. Die Auflösung ist nicht spektakulär, aber erschütternd und das ist ihre Stärke. Der Comic lebt von seiner Sogwirkung, nicht vom Adrenalin. Er führt uns an Orte, an die man eigentlich nicht will aber hinmuss, wenn man verstehen will, was Vergangenheit wirklich bedeutet.
Ein stiller, starker Comic über das, was bleibt
Aale & Gespenster ist ein Comic, der für mich funktioniert. Marius Schmidt gelingt das Kunststück, ein schweres Thema in eine packende, vielschichtige Erzählung zu kleiden, die weder belehrt noch banalisierend wirkt. Der Umgang mit deutscher Geschichte, vor allem mit der verdrängten Nachkriegsgesellschaft, ist klug, respektvoll und unbequem. Besonders bemerkenswert ist, wie Schmidt die beiden Zeitebenen miteinander verwebt. Die Geschichte von 1947 bleibt nicht im Gestern, sondern beeinflusst spürbar die Geschehnisse von 1987 und macht deutlich: Vergangenheit vergeht nicht einfach. Sie lagert sich ab, im Erdreich, in den Menschen, in der Kultur. Auch das Medium Comic wird hier überzeugend genutzt: Die Bildsprache ergänzt den Text, erweitert ihn, widerspricht ihm manchmal sogar und gerade dadurch entsteht Tiefe. Man spürt: Hier hat jemand nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern ein Thema durchdrungen.
Kurz gesagt: Ein Comic, der nicht laut sein muss, um Eindruck zu hinterlassen. Er tut es mit Stille, mit Schatten und mit einem leisen Flüstern aus der Tiefe.
Vielen Dank an den Avant Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.
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