Inexistenzen

Schnee, Eis, Granit und Stahl – die Welt ist kalt und feindlich. Nach einem vergessenen Krieg durchstreifen Überlebende die Ruinen der Zivilisation. Es heißt, ein Kind mit dem Wissen der alten Welt lebe an einem letzten Zufluchtsort. Scharfschütze Sol macht sich auf, die Wahrheit zu finden.
Willkommen im Frost, wenn die Welt zu Eis erstarrt
Inexistenzen wirft uns kopfüber in eine Welt, die nicht mehr leben will. Ein endloser Winter, der selbst die Hoffnung eingefroren hat, bildet die Kulisse dieses stillen, beklemmenden Endzeitdramas. Christophe Bec erschafft eine Welt aus Schnee, Beton und Erinnerungen an eine Menschheit, die sich selbst ausgelöscht hat, und an eine Zukunft, die kaum mehr als ein Flüstern ist. Willkommen in der Kälte.
Ein Mann, ein Gewehr, ein Gerücht
Im Zentrum steht Sol, ein wortkarger Scharfschütze, der mit stoischer Ruhe und scharfem Blick durch das gefrorene Nichts zieht. Sein Ziel: ein Kind, das angeblich das Wissen der alten Welt in sich trägt. Eine letzte Hoffnung oder nur ein weiterer Mythos in einer Welt voller verlorener Geschichten? Sol ist kein klassischer Held, sondern ein Überbleibsel. Ein Fragment der Vergangenheit, das noch nicht vergessen hat, wie es ist, Mensch zu sein.
Reduktion als Erzählkunst
Bec erzählt reduziert manchmal fast wortlos und genau das macht Inexistenzen so eindrucksvoll. Die Geschichte lebt nicht von Action oder Dialogen, sondern von der Atmosphäre, vom Schweigen zwischen den Panels. Jeder Blick, jede Geste, jeder Schatten sagt mehr als eine ganze Seite Text. Der Comic zwingt einen nicht, ihm zu folgen er lädt ein, ihm zu lauschen. Und wenn man sich darauf einlässt, entfaltet sich eine Erzählung, die lange nachhallt.
Die Kunst des Kalten
Visuell ist Inexistenzen ein echtes Brett. Christophe Bec liefert nicht nur sein erstes selbstgezeichnetes Werk seit Jahren ab, sondern auch eines, das zeigt, wie sehr er die Sprache der Bilder beherrscht. Die Landschaften sind weit, leer, einschüchternd. Die Farben? Grau, weiß, kalt und doch voller Nuancen. Man spürt den Wind, riecht den Schnee, hört das Knirschen der Stiefel im Eis. Besonders die Panorama-Seiten sind ein Erlebnis wie Fenster in eine Welt, die wir besser nicht betreten hätten.
Der Mensch als Schatten
In dieser Welt wirken Menschen wie Gespenster. Sie bewegen sich vorsichtig, flüchtig, fast transparent durch die Ruinen der Zivilisation. Sol begegnet auf seinem Weg anderen Überlebenden, aber Vertrauen ist ein Luxus, den sich hier niemand mehr leisten kann. Jeder trägt seine Geschichte, seine Schuld, seine Angst. Und gerade weil so wenig gesagt wird, wirkt alles umso intensiver. Inexistenzen ist ein Comic, der zwischen den Zeilen lebt.
Fragmentierte Vergangenheit
Die Ursache des Konflikts, der die Welt in die Knie gezwungen hat, bleibt im Dunkeln und das ist gut so. Statt zu erklären, lässt Bec Raum für Interpretation. Er gibt uns Splitter einer verlorenen Zeit, Bruchstücke von Erinnerungen. Die Welt von Inexistenzen ist nicht tot, sie ist vergessen worden. Und das ist vielleicht schlimmer. Der Comic stellt keine Fragen, um sie zu beantworten er stellt sie, um sie wirken zu lassen.
Ein Blick, ein Schuss, ein Moment
Als Scharfschütze lebt Sol in Momenten ein Blick durchs Visier, eine Entscheidung, ein Schuss. Und so ist auch der Comic komponiert: als eine Aneinanderreihung präziser Momente. Keine Szene zu lang, kein Bild zu viel. Manchmal fühlt sich das Lesen an wie das Öffnen eines alten Fotoalbums in einem verlassenen Bunker man weiß nicht, was einen erwartet, aber man kann nicht aufhören zu blättern.
Stille als Kraft
Inexistenzen ist leise fast unheimlich still. Und gerade deshalb so kraftvoll. Die Einsamkeit, die Verlorenheit, der ständige Überlebenskampf all das schleicht sich langsam, aber tief ins Herz. Dieser Comic verlangt Aufmerksamkeit, nicht durch Lautstärke, sondern durch Tiefe. Ein Werk, das man nicht nebenbei liest, sondern das man spürt, wie kalten Wind auf der Haut.
Hoffnung im Eis?
Am Ende bleibt die Frage: Gibt es Hoffnung in dieser Welt? Oder ist sie nur eine Illusion, die uns am Weitergehen hält? Die Antwort überlässt Bec uns. Und das macht Inexistenzen so besonders es ist kein Ratgeber, kein Actionfeuerwerk, sondern ein stilles Nachdenken über Menschlichkeit in Zeiten der Auslöschung.
In der Kälte schlägt ein Herz
Inexistenzen ist kein einfacher Comic. Er verlangt Geduld, Aufmerksamkeit und vor allem die Bereitschaft, sich auf eine Welt einzulassen, die fast alles verloren hat. Aber wer sich darauf einlässt, wird mit einem erzählerischen Erlebnis belohnt, das ich persönlich sehenswert fand. Christophe Bec zeigt hier seine ganze Klasse als Erzähler, der mit wenigen Worten ganze Welten skizziert. Das Werk lebt von seiner Reduktion. Keine übertriebene Dramatik, keine Exposition, keine schnellen Antworten. Stattdessen: eine frostige Melancholie, die sich langsam entfaltet. Sols Reise ist exemplarisch für die menschliche Suche nach Bedeutung auch (oder gerade) wenn es scheinbar keine mehr gibt. Visuell ist Inexistenzen schlichtweg großartig. Die Zeichnungen sind nicht nur technisch sauber, sondern atmosphärisch bis ins Letzte durchkomponiert. Jedes Panel ist wie ein Blick durch ein vereistes Fenster in eine Vergangenheit, die sich weigert, vergessen zu werden. Die drei Panorama-Seiten setzen diesem Kunstwerk die Krone auf – sie sind ein visuelle Highlights. Auch wenn das Tempo gemächlich ist, baut sich eine subtile Spannung auf, fast wie ein leises Pochen unter einer dicken Schneedecke. Was ist real, was Einbildung? Ist das Kind eine Legende oder die letzte Hoffnung? Diese Fragen bleiben offen, und genau das macht den Reiz aus. Inexistenzen will nicht alles sagen es will, dass du selbst hinsiehst.
Unterm Strich ist Inexistenzen ein stilles Stück Comic-Kunst, das ich insgesamt gut fand.
Vielen Dank an den Splitter Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.
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