The Sickness 1

Ein Teenager im Jahr 1945 und ein Arzt 1955 werden durch eine mysteriöse, tödliche Krankheit und die unheimliche Gestalt „Der Mann“ miteinander verbunden. Gefangen in ihren Jahrzehnten kämpfen sie ums Überleben und gegen das drohende Ende ihrer Welt.

Der Einstieg in den Wahnsinn

The Sickness beginnt nicht einfach es schleicht sich an dich heran. Von der ersten Seite an spürt man eine latente Beklemmung, die sich wie ein Nebel über das Setting legt. Jenna Cha wirft uns mitten hinein in eine Welt, die gleichzeitig vertraut und unheimlich fremd ist. Zwei Erzählstränge, zwei Jahrzehnte, zwei Figuren: Ein Teenager im Amerika von 1945, dem der patriotische Nachkriegsrausch die Luft abschnürt, und ein Arzt in den 1950ern, der einer rätselhaften neuen Krankheit auf den Grund gehen will. Was zunächst wie zwei lose Geschichten wirkt, entpuppt sich als verstörendes Puzzle, das sich langsam zusammensetzt.

Zeitreisen ohne Zeitmaschine

Besonders faszinierend ist die Art, wie der Comic mit Zeit umgeht. Ohne klassische Zeitsprünge oder Sci-Fi-Tricks verwebt The Sickness die beiden Dekaden miteinander, bis man fast vergisst, in welchem Jahrzehnt man sich gerade befindet. Die Übergänge sind subtil und doch wirkungsvoll. So entsteht eine Atmosphäre, die irgendwo zwischen nostalgischem Americana und surrealem Albtraum oszilliert. Lonnie Nadlers Zeichnungen tun ihr Übriges: Die Welt wirkt mal wie ein vergilbtes Fotoalbum, dann wieder wie ein Fiebertraum, aus dem man nicht aufwachen kann.

Body Horror trifft Kulturkritik

Einen besonderen Reiz gewinnt der Comic durch seine Vermischung von Body Horror und Gesellschaftskritik. Was auf den ersten Blick wie eine Krankheit aussieht, entpuppt sich als Symbol für tiefsitzende Traumata und verdrängte Wahrheiten. Der Horror ist nicht laut oder effektheischend, sondern schleichend und psychologisch, als Echo auf Cronenberg und Lovecraft gleichermaßen. Dass Jenna Cha dabei historische Bezüge wie den McCarthyismus oder den Nationalstolz der Nachkriegszeit einarbeitet, verleiht der Geschichte eine düstere Tiefe.

Wer ist „Der Mann“?

Ein zentrales Mysterium ist die Figur des ominösen „Manns“, der beiden Protagonisten folgt wie ein Schatten. Ist er ein übernatürliches Wesen, ein Halluzinationsprodukt oder schlicht ein Symbol für das kollektive Trauma Amerikas? Diese Ambivalenz ist bewusst gewählt und steigert die Spannung erheblich. Seine Erscheinung ist jedes Mal ein Ereignis, das Gänsehaut verursacht, ohne erklären zu müssen, warum. Genau darin liegt seine Stärke.

Ein Comic der leisen Töne

Trotz seiner düsteren Thematik ist The Sickness 1 kein brutaler Comic im klassischen Sinne. Vielmehr lebt er von Andeutungen, Zwischentönen und dem, was unausgesprochen bleibt. Die Panels sind oft ruhig, fast meditativ, und entfalten ihre Wirkung durch Details: ein Blick, eine verstörende Nahaufnahme, ein Satz, der hängen bleibt. Dieses reduzierte Storytelling ist anspruchsvoll, aber lohnend es fordert uns heraus, selbst mitzudenken und zu interpretieren.

Zeichnerisch ganz stark 

Lonnie Nadlers Artwork passt perfekt zu Chas Story: detailverliebt, atmosphärisch und zutiefst verstörend. Seine Farbgebung changiert zwischen fahlen Pastelltönen und intensiven Schattierungen, was die Dualität von Realität und Wahnsinn visuell unterstützt. Besonders gelungen sind die Szenen, in denen die Krankheit sichtbar wird deformierte Körper, blutige Visionen, groteske Transformationen. Es ist ein Fest für Fans des grafischen Horrors, ohne dabei voyeuristisch zu wirken.

Gesellschaft im Spiegel des Horrors

Was The Sickness besonders lesenswert macht, ist seine klare Haltung. Der Comic nutzt Horror nicht zur reinen Unterhaltung, sondern als Spiegel gesellschaftlicher Spannungen. Rassismus, Militarismus, soziale Kälte all das wabert unter der Oberfläche dieser Geschichte. Besonders im Zusammenspiel der Jahrzehnte zeigt sich, wie wenig sich bestimmte Probleme tatsächlich verändert haben. Die Krankheit ist hier Metapher für ein moralisches Verrotten, das nicht heilt, sondern wächst.

Mehr als ein Genre-Comic

Wer hier einen klassischen Horror-Comic erwartet, wird überrascht sein. The Sickness 1 sprengt Genregrenzen und fühlt sich eher wie ein filmisches Epos an, das mit literarischen Mitteln erzählt wird. Es ist ein Werk, das man mehrmals lesen kann – und vielleicht sogar sollte. Die vielen kleinen Hinweise, die symbolischen Ebenen, die sich erst beim zweiten Hinsehen erschließen, machen diesen Comic zu einem Erlebnis, das über den Konsummoment hinaus nachwirkt.

Ein düsterer Meilenstein mit Gewicht

The Sickness 1 ist ein wagemutiger Auftakt, der auf komplexe Weise Furcht und Faszination vereint. Es ist selten, dass ein Comic so konsequent Atmosphäre über Handlung stellt und dabei dennoch eine dichte, packende Geschichte erzählt. Der Horror entsteht nicht aus Schockeffekten, sondern aus einer beklemmenden Ahnung, dass etwas tief in der Gesellschaft nicht stimmt. Erfrischend ist die Ernsthaftigkeit, mit der Jenna Cha und Lonnie Nadler ihr Werk angehen. Kein Zynismus, keine Ironie stattdessen eine ehrliche, künstlerische Auseinandersetzung mit amerikanischer Geschichte und kollektiver Angst. Genau das verleiht dem Comic seinen bleibenden Eindruck. Besonders hervorzuheben ist, dass The Sickness sich traut, unangenehme Fragen zu stellen. Was, wenn die Krankheit nicht heilbar ist? Was, wenn sie ein Teil von uns ist? Und was, wenn der Mann, vor dem wir fliehen, wir selbst sind? Wer sich auf diese Geschichte einlässt, wird mit einem Werk belohnt, das lange nachhallt. Kein Fast-Food-Comic, sondern eine düstere, literarische Erfahrung tiefgründig, stilistisch einzigartig und mutig anders. Kurz: The Sickness 1 ist ein vielversprechender Auftakt zu einer Serie, die mehr zu sagen hat, als es auf den ersten Blick scheint.

Vielen Dank an den Skinless Crow Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars. 

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