Die Sicht der Dinge

Yoichi kehrt nach 15 Jahren zur Beerdigung seines Vaters nach Tottori zurück. Alte Erinnerungen werden wach, Gespräche mit den Verwandten lösen Schuldzuweisungen auf und lassen ihn seinen Vater in neuem Licht sehen.
Ein stilles Wiedersehen mit Vergangenheit und Erinnerung
Ein Manga über Heimkehr und Vergessen
Manchmal sind es die Geschichten ohne Action, ohne spektakuläre Kämpfe oder übernatürliche Kräfte, die am stärksten im Gedächtnis bleiben. Genau in diese Kategorie fällt dieser Manga. Die Handlung setzt ganz unscheinbar ein: Yoichi, der viele Jahre nichts mehr mit seiner Familie zu tun hatte, kehrt zur Beerdigung seines Vaters in die Heimat zurück. Schon dieser Ausgangspunkt verrät, dass es hier weniger um laute Dramatik, sondern vielmehr um leise Zwischentöne und persönliche Reflexion geht.
Ein Thema, das jeder kennt
Das Grundmotiv nach langer Zeit wieder auf die eigene Vergangenheit zu treffen ist universell. Jeder, der einmal längere Zeit fern von Zuhause war, weiß, wie befremdlich vertraute Orte plötzlich wirken können. Für Yoichi wird diese Rückkehr aber zu mehr als nur einem nostalgischen Spaziergang durch Tottori: Er muss sich den Erinnerungen stellen, die er jahrelang erfolgreich verdrängt hat.
Familiengespräche als Dreh- und Angelpunkt
Das Herzstück des Mangas sind die Gespräche zwischen Yoichi und seinen Verwandten. Keine lauten Streitereien, sondern ruhige, manchmal fast beiläufige Sätze, die nachhallen. Stück für Stück wird klar, dass die Bilder, die Yoichi von seinem Vater im Kopf hatte, vielleicht nie der Realität entsprochen haben. Alte Schuldzuweisungen lösen sich auf, neue Perspektiven tun sich auf und damit auch ein neues Verständnis von Familie.
Visuelle Erzählweise
Besonders beeindruckend ist, wie die Zeichnungen diesen inneren Wandel begleiten. Die Panels sind oft schlicht, mit viel Weißraum, was der Geschichte eine gewisse Leichtigkeit und Nachdenklichkeit verleiht. Man spürt förmlich die Schwere der Erinnerungen und die Stille der Beerdigung. Keine übertriebenen Gesichtsausdrücke, sondern kleine, subtile Gesten, die eine große Wirkung entfalten.
Die Stimmung: Zwischen Melancholie und Wärme
Trotz des traurigen Anlasses, dem Tod des Vaters schwingt in der Geschichte keine bedrückende Schwere mit. Stattdessen mischt sich Melancholie mit einer fast unerwarteten Wärme. Der Manga zeigt, dass Erinnerungen nicht nur Last sein müssen, sondern auch Versöhnung bringen können.
Warum sich dieser Manga lohnt
Der Manga zeigt auf ehrliche Weise, wie schwer es sein kann, mit der eigenen Familie ins Reine zu kommen. Statt auf große Dramen zu setzen, überzeugt er durch Authentizität. Wer Geschichten schätzt, die mitten aus dem Leben gegriffen sind, wird hier fündig. Oft laufen Mangas mit einem Familiendrama-Gehalt Gefahr, ins Kitschige abzurutschen. Hier ist das nicht der Fall. Alles bleibt zurückhaltend, unaufgeregt, aber genau deshalb so intensiv. Die Lesenden haben Zeit, die Gefühle von Yoichi nachzuvollziehen, ohne dass ihnen eine Emotion aufgedrängt wird. Besonders stark ist der Manga, weil er unweigerlich die Frage aufwirft: Wie sehe ich eigentlich meine eigene Familie? Viele werden sich in Yoichis innerem Ringen wiedererkennen. Es ist eine Einladung, über Vergangenes nachzudenken, aber auch darüber, wie Erinnerungen sich im Laufe der Zeit verändern. Man klappt den Manga nicht einfach zu und macht weiter wie bisher. Vielmehr bleibt er im Kopf hängen wie ein Gespräch, das man Tage später immer noch verarbeitet. Diese nachhaltige Wirkung ist selten und macht das Werk zu etwas Besonderem, ging zumindest mir so. Wer schnelle Unterhaltung sucht, sollte sich vielleicht woanders umschauen. Doch wer Lust auf einen ruhigen, tiefgründigen Lesemoment hat, findet hier einen Manga, der wie ein leiser, ehrlicher Film funktioniert. Ideal für einen Nachmittag, an dem man sich zurücklehnen und etwas Tiefe zulassen möchte.
Vielen Dank an den Carlsen Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.
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