Vertraute Fremde

Der 48-jährige Hiroshi landet versehentlich in seiner Heimatstadt, besucht das Grab seiner Mutter und erwacht plötzlich im Körper seines 14-jährigen Ichs. Mit dem Wissen eines Erwachsenen versucht er herauszufinden, warum sein Vater damals die Familie verließ.

Vertraute Fremde, wenn Zeitreisen das Herz berühren

Eine stille Reise beginnt

Vertraute Fremde von Jirō Taniguchi beginnt wie eine leise Melodie, die man erst nach und nach bewusst wahrnimmt. Der Protagonist Hiroshi, ein erfolgreicher, aber entfremdeter Geschäftsmann in den Vierzigern, steigt nach einer Dienstreise versehentlich in den falschen Zug. Ein banaler Fehler und doch der Startpunkt einer zutiefst menschlichen und emotionalen Reise. Die Geschichte nimmt uns mit in eine Welt zwischen Erinnerung und Realität, zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Der Zauber der Rückkehr

Als Hiroshi sich plötzlich in seinem 14-jährigen Ich wiederfindet, ist dies nicht etwa der Auftakt zu einem actiongeladenen Abenteuer, sondern zu einer leisen, introspektiven Erzählung. Taniguchi nutzt das Element der Zeitreise nicht als Spektakel, sondern als poetisches Stilmittel, um eine Lebensphase neu zu beleuchten, die von offenen Fragen, unausgesprochenen Emotionen und der rätselhaften Abwesenheit des Vaters geprägt ist. Es ist eine Rückkehr nicht nur an einen Ort, sondern zu sich selbst.

Erzählerische Tiefe statt Effekthascherei

Was Vertraute Fremde so besonders macht, ist seine ruhige, kontemplative Erzählweise. Jirō Taniguchi setzt auf kleine Gesten, Blicke und leise Zwischentöne. Die Geschichte lebt von ihrem emotionalen Feingefühl und der inneren Entwicklung des Protagonisten. Es geht weniger um das „Warum“ der Zeitreise als um das „Was nun?“. Der erwachsene Geist im kindlichen Körper erlaubt Hiroshi einen neuen Blick auf die eigene Jugend und damit auf sich selbst.

Der Vater als Schattenfigur

Im Mittelpunkt der Handlung steht die Frage nach dem Verschwinden des Vaters. Als Erwachsener hat Hiroshi nie wirklich verstanden, warum der Vater die Familie verließ. Nun bekommt er eine zweite Chance, sich ihm zu nähern. Die Annäherung ist tastend, vorsichtig, fast zaghaft, wie auch im echten Leben familiäre Konflikte selten laut ausgetragen werden. Gerade in dieser Zurückhaltung entfaltet der Manga seine größte emotionale Wirkung.

Die Kunst des Alltäglichen

Taniguchis Zeichenstil passt perfekt zur Stimmung der Geschichte: klar, präzise, fast fotografisch. Die Panels sind oft ruhig und detailliert, mit viel Platz für Landschaften, Räume und Mimik. Diese visuelle Sprache unterstützt die langsame Erzählweise und verleiht selbst alltäglichen Szenen eine besondere Tiefe. Man fühlt sich als Leser nicht wie ein bloßer Beobachter, sondern wie ein Teil dieser Welt, die zwischen Nostalgie und Erkenntnis schwebt.

Eine Kindheit neu erleben

Die Begegnungen mit den alten Freunden, der familiäre Alltag, die unterschwelligen Spannungen all das wirkt authentisch und ehrlich. Hiroshi erlebt seine Jugend erneut, diesmal aber mit dem Wissen und der Sensibilität eines Erwachsenen. Das führt zu Momenten der inneren Zerrissenheit, aber auch zu neuer Nähe. Was als sentimentale Reise beginnt, wird zu einem Prozess der Aufarbeitung und Vergebung.

Keine einfachen Antworten

Vertraute Fremde bietet keine einfachen Lösungen. Die Beziehung zu den Eltern, vor allem zum Vater, bleibt ambivalent. Die Antworten, die Hiroshi sucht, bekommt er nicht auf dem Silbertablett serviert. Doch genau das macht die Geschichte glaubwürdig und berührend. Das Leben ist komplex, und manche Dinge bleiben ungeklärt – doch manchmal genügt schon ein Perspektivwechsel, um Frieden zu finden.

Eine poetische Meditation über das Leben

Taniguchi gelingt mit diesem Werk eine seltene Mischung aus philosophischer Tiefe und emotionaler Wärme. Es ist ein Manga, der weniger gelesen als gespürt wird. Die Rückkehr in die Kindheit wird zur Reflexion über das eigene Erwachsensein. Und während Hiroshi wieder zurückkehrt in seine eigentliche Zeit, bleibt bei uns das Gefühl zurück, selbst ein Stück Vergangenheit besser zu verstehen.

Ein Manga, der bleibt, leise, aber eindringlich

Vertraute Fremde ist kein Manga für Zwischendurch. Es ist ein Werk, das in seiner Langsamkeit Kraft entfaltet. Taniguchi fordert von uns Geduld und schenkt uns dafür eine emotionale Tiefe, die nachhallt. Wer sich auf die Geschichte einlässt, wird nicht nur Hiroshis Reise begleiten, sondern auch die eigene innere Vergangenheit streifen. Weil ich mich selbst immer wieder auch gefragt habe, was würde ich tun. Dieses Werk richtet sich an jene die, die introspektive, ruhige Geschichten schätzen. Es stellt existentielle Fragen nach Familie, Identität und Verantwortung, ganz ohne Pathos. Wer jemals Unausgesprochenes mit sich herumgetragen hat, wird sich in dieser Erzählung wiederfinden. Die kunstvollen Zeichnungen tragen erheblich zur Wirkung bei. Jedes Panel ist mit Bedacht komponiert, oft fast meditativ. Taniguchis Fähigkeit, Stimmungen grafisch einzufangen, ist beeindruckend. Die Figuren sprechen oft mehr mit Blicken als mit Worten. Wer auf spektakuläre Wendungen oder Sci-Fi-Elemente hofft, wird hier nicht fündig. Vertraute Fremde ist vielmehr ein psychologisches Portrait und ein zärtlicher Versuch, Vergangenes zu verstehen. Der Zeitreise-Aspekt ist Mittel zum Zweck – und was für eines. Am Ende bleibt ein tiefes Gefühl von Melancholie und von Hoffnung. Vielleicht kann man die Vergangenheit nicht ändern. Aber man kann ihr mit neuen Augen begegnen. Vertraute Fremde ist ein Manga, den man nicht laut loben muss. Er flüstert und bleibt im Herzen. Jirō Taniguchis Werk ist damit nicht nur ein eindrucksvolles Beispiel für die künstlerischen Möglichkeiten eines Manga, sondern auch ein bewegendes Erlebnis.

Vielen Dank an den Carlsen Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars. 

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