Tokyo dieser Tage 1

Kazuo Shiozawa, ein langjähriger Manga-Redakteur, verlässt nach dem Ende seines Magazins seinen Verlag, kann jedoch seine Leidenschaft nicht hinter sich lassen. Auf der Suche nach neuen Ideen streift er durch Tokyo, trifft Künstler und plant ein neues Projekt. Taiyo Matsumotos dreiteiliges Werk „Tokyo dieser Tage“ beleuchtet dabei das besondere Verhältnis zwischen Manga-Redakteur:innen und Autor:innen und verbindet es mit einer atmosphärischen Darstellung des heutigen Tokyos.

Ein ungewöhnlicher Neustart

Tokyo dieser Tage 1 fühlt sich von der ersten Seite an wie ein sanfter, aber sehr bewusster Neuanfang. Wir begleiten Kazuo Shiozawa, der nach drei Jahrzehnten als Manga-Redakteur plötzlich ohne seinen gewohnten Arbeitsrhythmus dasteht. Diese Ausgangssituation verleiht dem Manga eine ruhige, fast meditative Grundstimmung, die sofort neugierig macht: Was passiert mit einem Menschen, der seinen Beruf mehr geliebt hat, als gut für ihn war?

Die Faszination der Redakteurswelt

Was hier besonders auffällt: Matsumoto zeigt eine Seite der Manga-Industrie, die sonst selten im Mittelpunkt steht – die der Redakteur:innen. Normalerweise sieht man nur die glitzernden Namen der Zeichner:innen, doch das Geflecht hinter den Kulissen, das Zusammenspiel aus Betreuung, Lenkung, Ermutigung und Druck, bekommt in diesem Manga ein Gesicht. Und das macht die Geschichte unerwartet persönlich und frisch.

Shiozawa als leiser Protagonist

Shiozawa selbst ist ein großartig gezeichneter Charakter. Er ist weder tragisch noch glorifiziert, sondern einfach ein Typ, der die Manga-Welt liebt, sie aber gleichzeitig nicht mehr erträgt. Seine Mischung aus Müdigkeit, Nostalgie und Restleidenschaft wirkt unglaublich echt. Je mehr man ihm durch Tokyo folgt, desto mehr versteht man, wie sehr dieser Job Menschen prägt.

Eine Reise durch das heutige Tokyo

Der Manga trägt Tokyo nicht umsonst im Titel. Matsumoto lässt die Stadt wie einen zweiten Hauptcharakter wirken: kleine Cafés, Hinterhöfe, winzige Ateliers, vollgestopfte Redaktionen. Alles wirkt nahbar und alltäglich, aber gleichzeitig stilisiert genug, um eine sanfte Melancholie auszustrahlen. Man fühlt förmlich das heutige Lebensgefühl der Metropole – nicht die glitzernde Großstadt, sondern das Tokyo der Menschen, die dort wirklich leben.

Künstlerische Begegnungen voller Charme

Auf seinem Weg trifft Shiozawa verschiedene Figuren, und jedes Treffen öffnet eine neue Tür in die Manga-Welt. Manche sind nervös, andere exzentrisch, einige frustriert. Matsumoto zeichnet diese Begegnungen mit seinem typischen Gespür für schräge, aber menschliche Momente. Die Gespräche sind manchmal banal, manchmal tief aber immer mit einer liebevollen Authentizität.

Der Funkenschlag der Idee

Besonders schön ist die langsame Entwicklung von Shiozawas neuem Projekt. Es entsteht nicht aus Druck oder Ehrgeiz, sondern aus reiner Begeisterung. Man merkt ihm an: Er kann gar nicht anders, als etwas Neues auf die Beine zu stellen. Dieser Prozess wirkt fast dokumentarisch und erinnert gleichzeitig daran, wie sehr kreative Berufe von Alltag, Zufall und Begegnungen leben.

Matsumotos unverwechselbarer Stil

Visuell liefert Matsumoto einmal mehr einen Mix aus Skizzenhaftigkeit und Ausdrucksstärke, den man sofort erkennt. Die Linien wirken roh, fast improvisiert, aber gerade dadurch unglaublich lebendig. Das passt perfekt zur Geschichte, die sich wie ein Spaziergang anfühlt – nicht durchchoreografiert, sondern organisch und beobachtend.

Das Thema der Lebensrhythmen

Der Manga ist letztlich auch eine Betrachtung darüber, wie sich Lebensrhythmen verändern – wenn man älter wird, wenn man Abschiede erlebt, wenn man sich neu erfinden muss. Tokyo wirkt in diesem Band gleichzeitig schnell und langsam, laut und still. Diese Ambivalenz überträgt sich auf Shiozawa, der zwischen Ruhe und Unruhe pendelt, ohne jemals zur Karikatur des verlorenen Mannes zu werden.

Ein sanfter Auftakt mit viel Herz

Tokyo dieser Tage 1 ist kein lauter Manga. Er schreit nicht nach Aufmerksamkeit, sondern lädt zum Zuhören ein. Er ist entschleunigt, persönlich und voller kleiner Beobachtungen. Genau darin liegt sein Reiz. Man spürt, dass Matsumoto nicht einfach eine Geschichte erzählen, sondern ein Gefühl vermitteln will – und das gelingt ihm meisterhaft.

Fazit

Tokyo dieser Tage 1 ist ein Manga, der durch Handlung und durch Atmosphäre überzeugt. Die Geschichte von Shiozawa zeigt, wie viel Gewicht ein beruflicher und persönlicher Neubeginn tragen kann, ohne dramatisiert zu werden. Wer schon immer wissen wollte, wie eng Redakteur:innen und Autor:innen in Japan zusammenarbeiten, bekommt hier eine selten intime Perspektive. Matsumoto schafft es, diesen unsichtbaren Bereich der Branche in den Mittelpunkt zu rücken. Der typische Matsumoto-Stil – rau, lebendig, eigen unterstützt die ruhige Erzählweise perfekt. Das Zusammenspiel aus Grafik und Text ergibt eine Stimmung, die lange nachhallt und sich von anderen Slice-of-Life-Werken abhebt. Die Stadt dient nicht nur als Kulisse, sondern als Spiegel der Figuren. Zwischen Alltagsszenen, Ateliers und nächtlichen Spaziergängen entsteht ein Bild vom modernen Tokyo, das vertraut und gleichzeitig poetisch wirkt. Band 1 fühlt sich an wie das erste Kapitel eines neuen Lebens sowohl für Shiozawa als auch für uns . Es ist genau die Art von ruhiger, nachdenklicher Manga-Erzählung, die einem ans Herz wächst und neugierig auf die nächsten zwei Bände macht.

Vielen Dank an den Reprodukt Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars. 

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