Das Mädchen und der Postreiter
1906 zerstört ein Erdbeben an der US-Westküste unzählige Leben. Die kleine Jenny verliert ihre Mutter und bleibt mit ihrem überforderten Stiefvater zurück, der sie per Post zu seinen Eltern nach Chicago schicken will dank einer Lücke im Regelwerk des US Postal Service. Auf ihrer Reise wird sie dem riesigen Ureinwohner Enyeto anvertraut, der sie sicher ans Ziel bringen soll. Es beginnt ein langer Weg durch die Wildnis, auf dem sich eine unerwartete Freundschaft entwickelt.
Ein Comic voller Herz, Abenteuer und historischem Flair
Ein faszinierender Startpunkt: Die USA im Jahr 1906
Schon die Prämisse von Das Mädchen und der Postreiter zieht uns in eine spannende und ungewöhnliche Zeit. Bertrand Galic und Roger Vidal platzieren ihre Geschichte geschickt ins Jahr 1906, inmitten von Trümmern nach dem katastrophalen Erdbeben an der US-Westküste. Mit der kleinen Jenny als Protagonistin, die ihre Mutter verloren hat und nun in einem von Chaos geprägten Amerika lebt, wird die historische Kulisse eindrucksvoll lebendig. Das Comic nimmt sich dabei der Frage an, wie ein kleines Mädchen in einer derart feindlichen Welt bestehen kann ein emotionaler Einstieg, der sofort fesselt.
Ein besonderes Duo auf ungewöhnlicher Reise
Das Herzstück der Geschichte ist die Reise von Jenny und dem Postreiter Enyeto. Enyeto, ein Ureinwohner mit ruhiger, entschlossener Präsenz, steht in starkem Kontrast zu der jungen, oft etwas aufmüpfigen Jenny. Ihre Dynamik ist ebenso humorvoll wie berührend. Vor allem Enyetos Perspektive, die sich in subtilen Dialogen und Momenten zeigt, verleiht der Geschichte Tiefgang. Die Chemie zwischen den beiden wächst im Verlauf der Reise, und es ist ein Genuss, ihre Beziehung sich entwickeln zu sehen von anfänglichem Misstrauen bis zu echter Zuneigung. Tatsächlich dachte ich am Anfang, okay dass wird am Ende schon ganz gut werden, für mich hat der Band auf ganzer Linie überzeugt und war ein emotionaler Trip, dessen Ende für mich auch sehr unerwartet kam.
Eine historische Abenteuergeschichte mit modernem Blick
Galic und Vidal gelingt es, eine Balance zwischen Abenteuergeschichte und der Schilderung eines Amerikas im Umbruch zu finden. Die Handlung spielt in einer Zeit, in der der Wilde Westen zwar romantisiert, aber längst nicht mehr so wild ist. Eisenbahnen durchziehen die Landschaft, Industrialisierung breitet sich aus, und traditionelle Lebensweisen verschwinden zunehmend. Enyetos indigene Perspektive wird dabei sensibel dargestellt –in angenehmer Kontrast zu oft stereotypen Darstellungen dieser Zeit. Das historische Setting wirkt nie aufgesetzt, sondern dient als organischer Hintergrund für die Reise und die entstehende Freundschaft.
Ein grafisches Meisterwerk mit Liebe zum Detail
Roger Vidals Zeichnungen sind ein Highlight des Comics. Jede Seite ist eine Augenweide von den staubigen Ruinen der Stadt San Francisco bis hin zu den weiten Landschaften, die Jenny und Enyeto durchqueren. Besonders beeindruckend ist die Darstellung der Natur: Berge, Wälder und Prärien strahlen eine wilde Schönheit aus, die fast schon fotografisch wirkt. Gleichzeitig fängt Vidal die Emotionen der Figuren mit feinem Gespür ein, was den Dialogen zusätzliches Gewicht verleiht. Die Farbpalette ist dezent, aber stimmungsvoll und unterstreicht die melancholische, aber hoffnungsvolle Atmosphäre der Geschichte.
Ein Roadmovie zu Pferd mit Tiefgang
Obwohl es sich um ein Abenteuer handelt, bleibt die Geschichte durchgehend intim und charakterfokussiert. Das Tempo ist angenehm entschleunigt, was die Entwicklung von Jenny und Enyeto umso glaubwürdiger macht. Gleichzeitig wird die Reise durch spannende Wendungen und Begegnungen lebendig. Ob Gefahren in der Wildnis oder kulturelle Vorurteile, denen Enyeto begegnet, die Geschichte bleibt stets dynamisch. Dabei scheuen die Autoren auch nicht davor zurück, schwierige Themen wie Verlust, Vorurteile und Anpassung anzusprechen.
Historischer Kontext als Mehrwert
Was Das Mädchen und der Postreiter besonders auszeichnet, ist der reale historische Hintergrund. Das Konzept, dass Kinder tatsächlich per Post verschickt wurden, mag heute absurd klingen, aber es ist historisch belegt. Dieses kuriose Detail gibt der Geschichte einen einzigartigen Dreh und zeigt gleichzeitig, wie kreativ die Autoren mit historischen Fakten umgehen. Auch die Darstellungen der sozialen und kulturellen Spannungen in den USA jener Zeit sind glaubwürdig und gut recherchiert.
Berührende Themen: Freundschaft, Verlust und Neubeginn
Neben den historischen und abenteuerlichen Elementen ist es vor allem die emotionale Tiefe, die diesen Comic so besonders macht. Jennys Verarbeitung des Verlusts ihrer Mutter und ihre vorsichtige Öffnung gegenüber Enyeto sind wundervoll erzählt. Die Freundschaft, die zwischen den beiden entsteht, ist nicht nur glaubwürdig, sondern auch rührend. Es geht um Vertrauen, gegenseitige Hilfe und die Kraft, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen.
Ein Werk, das bewegt
Das Mädchen und der Postreiter ist ein Comic, der Abenteuer, Geschichte und Emotionen auf beeindruckende Weise verbindet. Mit einer ungewöhnlichen Prämisse, starken Charakteren und grandiosen Zeichnungen ist es sowohl ein visuelles als auch ein erzählerisches Highlight. Fans von historischen Geschichten, einfühlsamen Abenteuern und gut ausgearbeiteten Charakteren kommen hier voll auf ihre Kosten. Bertrand Galic und Roger Vidal haben ein Werk geschaffen, das nicht nur unterhält, sondern auch berührt und definitiv im Gedächtnis bleibt.
Fazit: Ein Comic, der unter die Haut geht
Das Mädchen und der Postreiter ist ein Werk, das Abenteuer und Emotionen gekonnt miteinander verwebt. Die spannende Prämisse, ein Mädchen per Post quer durch die USA zu schicken, ist nicht nur historisch faszinierend, sondern auch der perfekte Rahmen für eine berührende Geschichte. Der Comic zieht von der ersten Seite an in die von Chaos und Umbruch geprägte Welt des Jahres 1906 und schafft es, historische Fakten und persönliche Schicksale meisterhaft zu verbinden.
Im Zentrum steht die Reise von Jenny und Enyeto, ein ungleiches Duo, dessen Beziehung den Kern der Geschichte ausmacht. Ihre langsame Annäherung, geprägt von Misstrauen, Respekt und schließlich Freundschaft, ist glaubwürdig und emotional mitreißend. Besonders beeindruckend ist die visuelle Gestaltung. Roger Vidal fängt mit seinen Zeichnungen die Weite und Schönheit der amerikanischen Landschaft ein, während die Figuren gleichzeitig in all ihren Emotionen lebendig wirken. Neben dem Abenteuer und den wunderschönen Bildern bietet Das Mädchen und der Postreiter auch einen tiefen Einblick in die historische und kulturelle Dynamik der Zeit. Die Darstellung von Enyetos indigener Perspektive ist erfrischend respektvoll, und die subtilen Anspielungen auf gesellschaftliche Umbrüche verleihen der Handlung eine zusätzliche Ebene.
Abschließend lässt sich sagen: Dieser Comic ist weit mehr als eine Abenteuergeschichte. Es ist eine intime Erzählung über Verlust, Freundschaft und den Mut, sich in einer fremden Welt zurechtzufinden, von meiner Seite aus eine absolute Empfehlung.
Vielen Dank an den Splitter Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars.
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